Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Themen, die den Wolf im Allgemeinen betreffen.
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SammysHP
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Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von SammysHP »

Durch eine hitzige Diskussion in einem anderen Forum, in der es u.a. um den Erhalt einer Art in Gefangenschaft ging, stellte sich mir folgende Frage in Bezug auf Endangered Species Conservation und genetische Varianz:

Wie viele Tiere (im Speziellen Wölfe) braucht man, um eine gesunde Population isoliert in Gefangenschaft zu haben? (und danach noch den "ursprünglichen" Wolf zu haben.)

Zum einen gibt es da die minimum viable population size, welche angibt, wie viele Individuen es in einer Population geben muss, damit von der Anzahl noch p Prozent nach n Jahren vorhanden sind. Je nach Bedingungen (Umwelt, Eigenschaften der Art usw.) kommt man dann i.d.R. auf 50 Individuen als unterste Grenze, um Inzucht zu vermeiden, und 500, um eine ausreichende Varianz in der Population zu gewährleisten. Die Zahlen können aber auch weitaus höher ausfallen. [1]

Auf der anderen Seite gibt es das Beispiel des Mexikanischen Wolfes. Hier soll wohl die ganze Population auf Basis dreier, nicht verwandten Individuen (erst waren es vier, später hat man durch genetische Analysen festgestellt, dass es doch eine Verwandtschaft gab) gezüchtet. Durch die gezielte Zucht mit jeweils möglichst großen Abstand zwischen den Linien soll so wieder eine ausreichend große Varianz gewährleistet werden. [2]
Ich frage mich allerdings, ob es nicht schon durch die ursprüngliche (nicht vermeidbare) Selektion der drei Tiere zu einem Engpass gekommen sein muss, was eine extreme Gendrift zur Folge haben müsste. Verstärkt wird das letztendlich auch durch die gezielte Zucht/Selektion (mit Berücksichtigung von Verwandtschaft und Genetik). In [2] wird zwar gesagt, dass die Population jetzt stabil sein soll, aber auf welcher Basis?

Der dritte Punkt, auf den ich gestoßen bin, ist eine interessante Studie zu den finnischen Wölfen. [3] Ich habe mir aufgrund der Länge noch nicht alles durchgelesen, aber in der Zusammenfassung steht, dass die Varianz nicht allzu hoch ist und ein Rückgang der Population zu verzeichnen ist.

Was meint ihr zu dem Thema?

_______________________________________________________________
[1] http://www.eoearth.org/article/Minimum_ ... opic=58074
[2] http://mexicanwolves.heritageparkzoo.or ... lation.pdf
[3] http://cc.oulu.fi/~jaspi/Finnwolf_printed.pdf
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Waldschrat
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von Waldschrat »

hi sammys hp:
ist nen interessantes thema, von dem ich aber leider keine ahnung habe :-(

mir ist nur eingefallen, dass dir bei den fragestellungen ggf die leute aus dem wisentgehege in springe weiterhefen könnten (ja,ja, ich weis, du magst den laden nicht...ggg). die sind federführend bei der wisentzucht und alle 3000 wisente gehen auf nur 12 tiere zurück. da sollte doch einiges an wissen über die tücken der genetik vorhanden sein.

grüße vom waldschat
"It's not easy to be green"
____________________Kermit
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SammysHP
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von SammysHP »

Danke für den Tipp, kann ich mal fragen. (Muss den Park ja nicht besuchen. :D )
jurawolf
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von jurawolf »

hm, ein grosses und sehr komplexes thema. und auch eines, bei dem noch immer viele fragen offen sind. trotz allen erkenntnissen stecken wir in der genetik noch in den kinderschuhen.

eine oft genannte und wohl tendenziell richtige zahl hast du bereits selbst genannt, und zwar 500 individuen. d.h. so viele individuen braucht eine population, damit sie auch langfristig alleine überlebensfähig ist, ohne dass es zu einer problematischen inzuchtdepression kommt. diese zahl wird in der literatur oft genannt, wobei ich aber eine studie gesehen habe, die diese zahl herleitet. meistens wird sie bloss zitiert. sie bezieht sich im wesentlichen auf populationen von raubsäugern, wo sie in managementplänen verwendung findet. übrigens ist damit meines wissens die effektive populationtsgrösse gemeint, also die zahl der tiere, die sich fortpflanzt und nicht das total aller tiere.

dann noch ein hinweis zur inzucht:
inzucht kommt immer wieder vor, auch in gesunden populationen (nicht nur beim wolf). eltern-kinder- und geschwister-paarungen dürften zwar die krasse ausnahme sein, aber weiter entfernt verwandte tiere paaren sich da schon etwas häufiger. inzucht ist also immer vorhanden, sie wird aber bei einer ausreichenden genetischen variabilität (eben die 500 individuen) nicht zum problem. aus der inzucht resultiert ein genetischer inzuchtkoeffizient, der aussagt, wo hoch der anteil der inzucht in einer population ist. dieser wert alleine hat aber noch keine unmittelbare bedeutung. ein hoher inzuchtkoeffizient ist aber die voraussetzung für eine inzuchtdepression und diese ist das echte problem. inzuchtdepression ist das auftreten von negativen auswirkungen auf die fitness der tiere (z.b. fortpflanzungsstörungen, erbkrankheiten, knochenprobleme, etc.). dies führt meistens zum erlöschen der population, seltener kann die depression überwunden werden (sog. purging). etwas überspitzt gesagt (aber im kern oft richtig), ist die population verloren, wenn man eine inzuchtdepression feststellt.

leider wird viel zu oft einfach inzucht=inzuchtkoeffizient=inzuchtdepression gesetzt. dies ist so aber nicht korrekt.

SammysHP hat geschrieben:Wie viele Tiere (im Speziellen Wölfe) braucht man, um eine gesunde Population isoliert in Gefangenschaft zu haben? (und danach noch den "ursprünglichen" Wolf zu haben.)
bei dieser frage muss man sich einfach bewusst sein, dass man den "ursprünglichen" wolf so gar nicht erhalten kann. denn sämtliche arten unterliegen einer gewissen entwicklung, die von einer vielzahl unterschiedlicher faktoren gesteuert wird. diese faktoren sind in gehegen immer anders als im freiland. deswegen wird sich auch eine gehege-population entwickeln und auch ein genetisch gesunder bestand wird sich nach x jahren von den ursprünglichen tieren unterscheiden.

kommt hinzu, dass sich die artgenossen in freier wildbahn natürlich auch entwickeln. man kann mal ein gedankenexperiment anstellen: es gibt 1000 wölfe in deutschland, davon steckt man 500 in gehege und belässt 500 in freier wildbahn, dann warte man 1000 jahre und schaue wieder. man würde feststellen, dass sich beide populationen genetisch und morphologisch unterscheiden. klar wären beides noch wölfe, aber durch die unterschiedlichen selektionsfaktoren in den gehegen und in der freien wildbahn würden dennoch unterschiede entstehen.

SammysHP hat geschrieben:Auf der anderen Seite gibt es das Beispiel des Mexikanischen Wolfes. Hier soll wohl die ganze Population auf Basis dreier, nicht verwandten Individuen (erst waren es vier, später hat man durch genetische Analysen festgestellt, dass es doch eine Verwandtschaft gab) gezüchtet. Durch die gezielte Zucht mit jeweils möglichst großen Abstand zwischen den Linien soll so wieder eine ausreichend große Varianz gewährleistet werden. [2]
Ich frage mich allerdings, ob es nicht schon durch die ursprüngliche (nicht vermeidbare) Selektion der drei Tiere zu einem Engpass gekommen sein muss, was eine extreme Gendrift zur Folge haben müsste. Verstärkt wird das letztendlich auch durch die gezielte Zucht/Selektion (mit Berücksichtigung von Verwandtschaft und Genetik). In [2] wird zwar gesagt, dass die Population jetzt stabil sein soll, aber auf welcher Basis?
jede population, die mal markant geschrumpft und dann wieder gewachsen ist, hat einen genetischen flaschenhals (bottleneck) durchlaufen, der die genetische variabilität stark vermindert hat und einen genetischen drift verursacht. dies erhöht die gefahr einer inzuchtdepression.

einen solchen flaschenhals haben natürlich die mexikanischen wölfe durchlaufen, aber beispielsweise auch die schwedischen und sogar die italienischen, die ja immerhin noch 50-100 stück waren, bevor die population wieder wuchs. aber auch die luchspopulationen in mitteleuropa haben alle einen flaschenhals durchlaufen, da jeweils nur wenige tiere die population gründeten (harz, bayerischer wald, westalpen, jura, usw.). alle diese populationen stehen grundsätzlich vor dem gleichen problem, aber es ist halt nicht bei allen gleich gross.

populationen können sich aber wie gesagt wieder davon erholen. denn erstens muss es nicht zwangsläufig zu einer inzuchtdepression kommen und selbst diese kann ja überwunden werden. voraussetzung ist, dass kranke tiere konsequent eliminiert werden, damit die schlechten gene aus der population verschwinden. diese elimination kann übrigens auch natürlich geschehen, wenn ein starker selektionsdruck auf gesunde tiere herrscht.

wie die situation nun beim mexikanischen wolf konkret aussieht, weiss ich auch nicht. wenn bereits bei der zucht konsequent alle tiere entfernt wurden, die nicht ganz gesund waren, wäre dies zumindest von vorteil.

SammysHP hat geschrieben:Der dritte Punkt, auf den ich gestoßen bin, ist eine interessante Studie zu den finnischen Wölfen. [3] Ich habe mir aufgrund der Länge noch nicht alles durchgelesen, aber in der Zusammenfassung steht, dass die Varianz nicht allzu hoch ist und ein Rückgang der Population zu verzeichnen ist.
habe mir das paper (noch) nicht durchgelesen. es würde mich aber sehr erstaunen, wenn der populationsrückgang in finnland genetische gründe hätte. ich kann mir nicht vorstellen, dass es dort zu einer inzuchtdepression gekommen ist. dazu kann man auch mit der situation in schweden vergleichen, wo die population ja ebenfalls nur auf drei tieren aufbaut. dort ist der inzuchtkoeffizient sehr hoch und es gibt anzeichen für eine inzuchtdepression. trotzdem wächst die population munter weiter (aber vermutlich eben nicht unbedingt die genetische variabilität, weshalb die wölfe alles andere als gesichert sind). die finnischen wölfe haben aber nie einen derartigen flaschenhals durchlaufen.
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SammysHP
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von SammysHP »

Vielleicht nicht gut ausgedrückt, die Population der finnischen Wölfe sei zwar geringfügig gewachsen, nicht aber die Varianz.

Dass sich auch die freilebende Population ändert, ist klar. Vielleicht muss ich die Frage umformulieren: Was genau will man erhalten? Ist vielleicht schon wieder philosophischer Natur.
jurawolf
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von jurawolf »

ok, im fall von finnland könnte dies auf ein partielles purging hindeuten, falls es zuvor tatsächlich zu einem genetischen flaschenhals gekommen ist. daran zweifle ich aber, oder aber es ist höchtens zu einem kleinen flaschenhals gekommen (die gründerpopulation wäre also recht hoch).

zur erhaltungszucht: vielleicht habe ich da auch etwas weit ausgeholt. denn wir sprechen ja in der regel von sehr geringen zeitspannen, die evolutionär noch nicht von grosser bedeutung sind. wenn man beispielsweise einen restbestand an tieren in gefangenschaft sichert, um vielleicht 20 jahre später mit diesen wieder eine ansiedlung in freiheit zu versuchen, wird sich die art noch nicht mehrklich verändert haben. meine überlegung war also mehr theoretischer art. wenn man in gehegen die gleiche art erhalten möchte wie in der freiheit, müsste man zwischendurch von dort tiere einkreuzen.
balin
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von balin »

Wenn man die paar Euros anlegt, kann man hier die Gedankengänge zum genetischen Überleben der mexicanischen Wölfe nachlesen.
http://www.springerlink.com/content/t043315h3n40w175/
Ziel ist das Überleben der Art trotz enger genetischer Breite. Die Schritte dazu werden beschrieben.
Stammt aus dem Jahr 2009.
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SammysHP
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von SammysHP »

Wenn man die paar Euros anlegt
Wenn ich Montag wieder in der Uni bin, kann ich mir das mal runterladen, da habe ich nämlich freien Zugriff auf SpringerLink.

@jurawolf
Wir reden glaube ich immer noch ein wenig aneinander vorbei, vielleicht ist es auch nur meine mangelnde Erfahrung in Genetik: Eine willkürlich gegebene Auswahl an Individuen aus der Ursprungspopulation, mit denen dann weitergezüchtet wird, ist doch eine Selektion. Kommt es dadurch schon zu einer merkbaren Gendrift? Theoretisch müsste ich doch anschließend nicht die selbe Varianz bekommen, wie in der Ursprungspopulation.

Beim Mexikanischen Wolf z.B. ist es natürlich so, dass man keine andere Möglichkeit hatte, es gab halt nur diese Tiere, auf die man Zugriff hatte. Da ist dann wieder die Frage, ob sich daraus der gleiche Mexikanische Wolf entwickelt hat, wie es in Freiheit geschehen wäre.
jurawolf
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von jurawolf »

ja, im prinzip hast du recht. wenn man nur einen (kleinen) teil aus der population nimmt und mit diesem weiter züchtet, gibt das praktisch automatisch einen gendrift. denn der genetische flaschenhals ist nämlich nicht anderes als eine form des gendrifts (es gibt noch andere möglichkeiten des drifts). die variabilität ist dadurch vermindert, es kommt zu einer anderen genetischen entwicklung als es sonst der fall wäre.
balin
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Re: Endangered Species Conservation und genetische Varianz

Beitrag von balin »

Das Beispiel mit den Wisenten ist hier etwas beschrieben:
http://www.waldwissen.net/themen/wald_w ... DE?start=0
Das würde gut zu mir passen, aber die sind wahrscheinlich noch schwerer im Zaun zu halten wie meine freigehenden Kühe. :-D
Und sie sind Knospenbeisser und ich will doch Hecken aussenrum haben. Arbeit für die Hunde gäbe es aber wahrscheinlich mehr wie jetzt.
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