Es ist eine typische Argumentation aus Kreisen der Jagd- und Agrarlobby, dass der Wolfsbestand unkontrollierbar würde, wenn man nicht rechtzeitig eingreife (=Jagd). Diese Behauptung ist verständlich, da der Gegenbeweis nicht nur die Jagd auf sämtliche Beutegreifer, sondern den Sinn der Jagd an sich in Frage stellen könnte.
Wie oft wurde argumentiert, dass die in der breiten Gesellschaft umstrittene Jagd notwendig sei, um das Schalenwild zu "regulieren", weil die großen Beutegreifer ausgerottet seien? Die Rückkehr der Wölfe schwächt diese Argumentation. Die Befürworter unseres Hobby-Revierjagdsystems können es sich schlichtweg nicht leisten, zuzuschauen, wie der Wolf ohne ihre Regulierung auskommt.
Man muss jetzt eingreifen,
bevor die Bevölkerung die Erfahrung macht, dass die Jagd auf Beutegreifer entbehrlich, ja sogar kontraproduktiv ist (siehe illegaler Abschuss der Cuxhavener Fähe).
Für die angebliche dringliche Notwendigkeit der Wolfsbejagung, quasi "bevor es zu spät sei", können ihre Befürworter jedoch keine Begründung liefern.
Als die schwedische Regierung für Januar 2010 erstmals wieder 27 Wölfe zum Abschuss freigegeben hatte, meldeten sich 12.000 Jäger für deren Tötung. 12.000 gegen 27 - kein Wunder, dass 21 Wölfe bereits am ersten Jagdtag zur Strecke gebracht wurden.¹
Letztlich zeigt sich in Schweden, dass die Jagd auf Wölfe keine Nutztierrisse hat verhindern können. Der im Netz kursierende Fall der Jagdhündin "Klara", die durch Wölfe verletzt worden war, erfolgte in einem Gebiet, dass nach der Jagd auf Wölfe im Winter zuvor eigentlich für "wolfsfrei" erklärt worden war.
Der Besitzer von Klara sagte gegenüber nwt.se:
"Man blir ganska frustrerad. I Gårdsjöreviret jagades varg i vintras, det skulle ha varit tömt,[...]"
(Es ist frustrierend. Im Gårdsjörevier wurde Wölfe im vergangenen Winter gejagt, so dass dort keine mehr hätte geben sollen, [...])
https://nwt.se/sunne/2015/10/15/jamthun ... vde-brutal
Will man die Wölfe also nicht wieder komplett ausrotten, kann eine "Bewirtschaftung" der Wölfe durch Bejagung nicht garantieren, dass man keinem Wolf begegnet. Im Gegensatz zu Herdenschutzmaßnahmen wie E-Zäune und Herdenschutzhunde kann eine Bejagung auch keine Risse ungeschützter Weidetiere verhindern, denn spätestens die Goldenstedter Wölfin hat auch in Deutschland in der Praxis bewiesen, dass die Zahl der Nutztierrisse nicht in zwangsläufiger Relation mit der Anzahl der Wölfe steht.
Und der Fall der illegal getöteten Fähe in Cuxhaven bestätigt letztlich, was die Wissenschaft in verschiedenen Studien nachweisen konnte:
"Wolfsabschüsse schützen keine Nutztiere"
https://vet-magazin.de/wissenschaft/wil ... tiere.html
Da bleibt nicht mehr viel an sachlicher Begründung für eine Wolfsbejagung. Umso mehr muss die Rotkäppchen-Taste gedrückt werden, um über eine Verunsicherung der Bevölkerung - insbesondere jener, die noch über keine praktische Erfahrung mit der Situation in den Wolfsgebieten verfügt - eine Stimmung der diffusen Ängste zu erzielen, die der Wolfsjagd eine Legitimation durch die Gesellschaft erteilt.
Dafür wurde das Bild des "scheuen" Wolfs konstruiert, der angeblich seine Scheu verloren habe. So erklären sich Sätze wie:
Erklärbär hat geschrieben:Wolf/Menschbegegnungen sollten überhaupt nicht stattfinden, tun es aber immer wieder und anscheinend immer mehr.
Bereits 2006, als die Wolfsrückkehr in Ostdeutschland noch einigermaßen "geräuschlos" verlief, schrieben die Biologinnen Gesa Kluth und Ilka Reinhardt in ihrem Wolfsleitfaden (Bundesamt für Naturschutz, Script 201):
Selbst in einem so dünn besiedelten Gebiet wie der Oberlausitz, ist ein fast tägliches Zusammentreffen von Mensch und Wolf nahezu unvermeidbar.
Wölfe werden gesehen, wenn sie Straßen oder Felder überqueren. Anfangs sind die Leute überrascht oder auch beunruhigt, wie nahe sich Wölfe an die Siedlungen "trauen". [...] Die Menschen brauchen einige Zeit, um das für sie zunächst ungewöhnlich wirkende Verhalten zu verstehen und in den richtigen Kontext zu stellen. [...] Durch die Vermittlung möglichst detaillierter Kenntnisse über die "eigenen Wölfe", kann es sogar gelingen, eine Art Vertrautheit im Zusammenleben mit dem Neubürger zu erreichen.
https://www.bfn.de/fileadmin/MDB/docume ... ipt201.pdf
Und weiter:
Wölfe, wie auch andere Tiere, haben keine "arttypische" Scheu vor menschlichen Siedlungen oder Strukturen. Auch die Scheu vor dem Menschen ist nicht angeboren, sondern individuell erworben. Davon kann sich ein jeder in den Nationalparken dieser Welt überzeugen. Dort, wo Tiere den Menschen nicht als Feind kennen gelernt haben, ignorieren sie ihn in aller Regel. Um in der Kulturlandschaft leben zu können, müssen Wildtiere menschliche Strukturen und auch die Anwesenheit von Menschen bis zu einem gewissen Grade tolerieren.
https://www.bfn.de/fileadmin/MDB/docume ... ipt201.pdf
Erst, als die Wolfsdiskussion in Niedersachsen zu politischen Zwecken instrumentalisiert wurde, begann die vermeintliche Hysterie, die von der Jagd- und Agrarlobby nebst ihrer Netzwerke in Politik und Lokalmedien professionalisiert und intensiviert wurde.
Sachliche Begründungen blieben dabei auf der Strecke, beispielsweise die Antwort, wie ein auf dem Ansitz erschossener Wolf seinen Artgenossen die angeblich natürliche Scheu vor Menschen beibringen soll. Selbst ein angeschossener, überlebender Wolf - was schon aus ethischen und Tierschutzgesichtspunkten kein Ziel sein kann - muss die Schussverletzung mit dem Menschen in Verbindung bringen, wofür der Mensch dann aber auch nah und erkennbar genug am Wolf sein muss. Tatsächlich wird der Wolf eher Ort und Zeit mit dem Schmerz in Verbindung bringen - und letztlich wie das Schwarzwild lernen, das Vorhandensein bestimmter Menschen (Tarnkleidung, Jagdwaffe) an bestimmten Orten (Revier, Hochsitz etc.) zu bestimmten Zeiten zu meiden und stattdessen Gebiete zu bevorzugen, in denen nicht gejagt wird (z. B. Siedlungsbereiche).
Die Zerstörung der Rudelstrukturen durch unkontrollierte Bejagung kann letztlich zu Mehrfachreproduktionen führen oder zu vermehrter Durchwanderung revierfremder Wölfe mit allen daraus resultierenden Problemen für die Nutztierhalter.
Letztlich scheint es so, als hätte man aus den Fehlern der Hobbyjagd auf Schwarzwild überhaupt nichts gelernt. Das Schwarzwild konnte trotz Bejagung nicht reduziert werden - im Gegenteil. Sie erweist sich eher als Teil des Problems und nicht der Lösung. Die Ergebnisse der Wissenschaft wurden auch hier ignoriert.
Und letztendlich muss man festhalten, dass die Hobbyjagd selbst mit all ihren Kollateralschäden an Menschen und Haustieren Jahr für Jahr wesentlich mehr menschliche und tierische Tote und Verletzte fordert als der Wolf, der seit seiner Rückkehr in Deutschland vor rund 20 Jahren keinem einzigen Menschen auch nur ein einzelnes Haar gekrümmt hat.
¹ Tagesspiegel, 04.01.2010: 12.000 Jäger gegen 27 Tiere
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/ ... 57726.html