Lies'scher Selbstschutz von Rinderherden

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Nina
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Lies'scher Selbstschutz von Rinderherden

Beitrag von Nina »

Der Lies'sche Selbstschutz von Rinderherden - eine Theorie des niedersächsischen Umweltministers Olaf Lies, nach der sich Rinder selbst vor dem Wolf schützen können - wird im aktuellen Bericht der DBBW zu Prävention und Nutztierschäden 2020 negiert.
Rinder und Pferde sind durch ihre reine Körpergröße nicht so einfach zu erbeuten wie Schafe und Ziegen. Zudem sind sie im Vergleich zu diesen mitunter von Natur aus recht wehrhaft und reagieren teilweise aggressiv auf potentielle Bedrohungen. Allerdings gibt es deutliche individuelle und rassebedingte Unterschiede. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass sich erwachsene Rinder und Pferde generell selbst vor Übergriffen schützen können und deshalb keines Herdenschutzes bedürfen. [...] Wenn Wölfe große Nutztiere töten, handelt es sich oft um Jungtiere oder Kleinrassen sowie um einzeln gehaltene Rinder oder Pferde. Jedoch können Wölfe auch lernen, ausgewachsene Rinder/ Pferde zu töten. [...] Durch die häufig übliche Zäunungsform von Mutterkuhherden mit nur ein bis zwei Stromlitzen in 60 bis 100 cm Höhe, sind Kälber für Wölfe leicht erreichbar (Kamp 2021). Teilweise schlüpfen junge Kälber auch unter der Stromlitze hindurch. Sie befinden sich dann außerhalb der Koppel und des Einwirkungsbereiches der Mutterkühe und stellen dort eine leichte Beute für Wölfe dar. Zudem kann das Verteidigungsverhalten von Mutterkühen je nach Rasse sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. [...] Wenn einzelne Wölfe gelernt haben, Rinder zu töten, müssen auch diese vor Wolfsübergriffen geschützt werden. [...] In Projekten in Brandenburg und Sachsen-Anhalt konnte demonstriert werden, dass auch Rinder erfolgreich durch Herdenschutzmaßnahmen, wie etwa elektrifizierte Zäune, geschützt werden können (Hartleb et al. 2017; LAU 2018; Kamp 2021).

DBBW, Bericht zu Prävention und Nutztierschäden 2020,Seite 5-7 https://www.dbb-wolf.de/mehr/literatur- ... erschaeden
Wir erinnern uns: Das niedersächsische Umweltministerium stellte u.a. zur Begründung der Abschussgenehmigung für den Rodewalder Rüden folgende steile These auf:
Bei Rinderherden kann eine ausreichende Fähigkeit zum Selbstschutz gegenüber Wolfsangriffen angenommen werden, wenn

- zur Herde erwachsene Tiere (zweijährig oder älter) gehören,
- diese nicht geschwächt sind, z.B. durch Krankheit, Verletzung, kurzfristig zurückliegende Abkalbung, und
- diese zahlenmäßig ausreichend sind, um eine Verteidigungsposition einnehmen zu können.

Kälber als Teil einer Rinderherde mit einer ausreichenden Fähigkeit zum Selbstschutz gegenüber Wolfsangriffen sind dank dieser Fähigkeit der erwachsenen Rinder ausreichend mitgeschützt.


Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN): Ausnahmegenehmigung gem. § 45 Abs. 7 S.1 Nr. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG)1 von den Verboten des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG auf der Grundlage des Erlasses MU 29-2220/9/25 vom 16.01.2019, Seite 2, Download unter Pressemitteilung Nr. 12/2019: Umweltministerium veröffentlicht artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung zur Tötung des Wolfsrüden GW 717m https://www.umwelt.niedersachsen.de/sta ... 73831.html
Der Lies'sche "selbstschutzfähige Herdenverband" muss gemäss Niedersächsischer Wolfsverordnung bei Rindern dabei lediglich aus der jeweils gleichen Anzahl Rindern von über und unter 250 kg bestehen; praktisch gesehen also schon ab einem Rind mit einem Kalb. Bei Pferden ist statt des Gewichts das Alter maßgeblich; ein Jährling von einem Jahr ist zusammen mit einem Fohlen von unter einem Jahr nach der Lies'schen Definition bereits zum "Selbstschutz" befähigt, selbst wenn es sich bei den zwei Pferdekindern um Mini-Shettys handelt, da weder Rasse, Stockmaß oder Gewicht berücksichtigt werden.
Als zumutbar gilt eine angepasste Haltungsform, sodass die Tiere, insbesondere Kälber und Fohlen, nicht allein auf der Weide stehen. Außerdem muss für die Gewährleistung eines selbstschutzfähigen Herdenverbands

1. bei der Haltung von Rindern mindestens die gleiche Anzahl von Tieren mit einem Gewicht von über 250 kg gemeinsam mit Rindern mit einem Gewicht von unter 250 kg und

2. bei der Haltung von Pferden mindestens die gleiche Anzahl von mindestens einjährigen Pferden gemeinsam mit unter einjährigen Pferden
auf der Weide gehalten werden.


Niedersächsisches Ministeriumfür Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz: Anlage (zu § 3 Abs. 3, § 5 Abs. 1 und § 6 Abs. 1 Nrn. 1 und 3) B. Zumutbare wolfsabweisende Schutzmaßnahmen, 3. Pferde und Rinder https://www.voris.niedersachsen.de/jpor ... e&aiz=true
In einer Landtagsantwort musste der Umweltminister allerdings bereits zugeben, dass das Konzept des Lies'schen selbstschutzfähigen Herdenschutzverbands jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.
7. Auf welche wissenschaftlichen Studien stützt die Ausnahmegenehmigung vom 23.01.2019 ihre Annahme des Selbstschutzes von Rinderherden gegenüber Wolfsangriffen (bitte die Studien namentlich, mit Datum der Veröffentlichung sowie den Autoren angeben)?

[Antwort der Landesregierung:] Einschlägige wissenschaftliche Studien zur Frage des Selbstschutzes von Rinderherden liegen bislang nicht vor.

Landtagsantwort 18/5824 der Niederdächsischen Landesregierung vom 14.02.2020 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Christian Meyer, Imke Byl und Helge Limburg (GRÜNE), 18/5543 vom 09.01.2020: War ein „südeuropäischer Trapper“ (Welt vom 15.12.2019) der Dienstleister für den erfolglosen Fang des Rodewalder Wolfes? - Welche Schäden an wehrhaften Rindern hat der Rüde tatsächlich verursacht? https://www.landtag-niedersachsen.de/Dr ... -05824.pdf
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Nina
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Re: Lies'scher Selbstschutz von Rinderherden

Beitrag von Nina »

Bericht der Umweltministerkonferenz widerspricht dem Lies'chen Selbstschutz von Rinder- und Pferdeherden:
Rinder und insbesondere Pferde in einem funktionierenden Herdenverband sind einem ungleich geringeren Risiko von Wolfsübergriffen ausgesetzt als Schafe und Ziegen beziehungsweise Gatterwild. [...] Überwiegend sind Kälber bzw. Fohlen von Übergriffen betroffen.

So waren 2018 63 % der durch Wölfe getöteten Rinder unter 14 Tage alt, 10% zwischen 2 Wochen und 2 Monaten und 9% zwischen drei und sechs Monaten alt. Nur 12% der Rinder waren zum Zeitpunkt des Übergriffs älter als 12 Monate. Die Daten aus dem Jahr 2019 zeigen ein ähnliches Bild.

Pferde sind noch seltener von Wolfsübergriffen betroffen. Von den seit 2000 bis 2019 registrierten 2973 Übergriffen auf Nutz- und Haustiere waren Pferde in 21 (0,7 %) Fällen betroffen, wobei nicht in allen Fällen der Wolf sicher als Verursacher feststeht. In mindestens 14 Fällen handelte es sich um Fohlen. Bei reinen Abkalbe- beziehungsweise Fohlungsweiden stellen daher in der kritischen Zeit der Geburt und bis zu einem Lebensalter von zwei Wochen die bei Schafen und Ziegen empfohlenen Herdenschutzmaßnahmen
[...] nach Prüfung des Einzelfalles i. d. R. eine zumutbare Alternative im Sinne des § 45 Abs. 7 S. 2 BNatSchG dar. [...]

Obwohl fast nur Kälber und Fohlen betroffen sind, kann nicht in jedem Fall davon ausgegangen werden, dass sich erwachsene Rinder und Pferde selbst vor Übergriffen schützen können und deshalb keines Herdenschutzes bedürfen (z.B. Mutterkühe, die zum Teil hornlos gezüchtet werden). Vor jeder Ausnahmegenehmigung zur Entnahme eines Wolf zur Abwendung (drohender) ernster wirtschaftlicher Schäden bei Rindern und Pferden ist daher ebenso wie bei Schafen und Ziegen und anderen kleinen Weidetieren zu prüfen, ob die Anwendung von Herdenschutzmaßnahmen (u.a.
stromführende Zäune und/oder Herdenschutzhunde oder Änderungen im Herdenmanagement) eine zumutbare Alternative
[...] sind.

Umweltministerkonferenz, Praxisleitfaden zur Erteilung artenschutzrechtlicher Ausnahmen nach §§ 45 und 45a BNatSchG beim Wolf, insbesondere bei Nutztierrissen - Praxisorientierte Prüfabfolge und Prüfinhalte auf Basis der aktuellen rechtlichen Grundlagen, Fassung UMK-Umlaufverfahren Oktober 2021, Seite 27-28 https://www.umweltministerkonferenz.de/ ... 021_52.pdf
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