Begegnung mit Wölfen - Dynamiken und Zukunft

Auf ein interessantes Buch oder Internetseite über Wölfe gestolpert? Dann her damit!
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Dr_R.Goatcabin
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Begegnung mit Wölfen - Dynamiken und Zukunft

Beitrag von Dr_R.Goatcabin »

Reichlich sperriger Titel der Ausgabe (zumindest das, was mir Zotero nach Input der ISBN zurück gibt), aber dafür nett gemacht, (teilweise) zweisprachig und .. kostenlos als PDF. ;)

Kleine Reihe des Sorbischen Instituts Bautzen 32 -
Heyer (2020): Encounters with Wolves: Dynamics and Futures. ISBN 9783981696196. Link

Vorwort: [Auszug, einige Absätze von mir hinzu gefügt]
Im sorbischen Tiermärchen »Des Wolfes glücklicher Tag« weissagt die Füchsin dem Wolf, er werde den ganzen Tag lang nur Glück haben. Der Wolf, Antiheld dieser Geschichte, lässt sich von dieser Prophezeiung ermutigen: Entgegen seinem ursprünglichen Plan, den Tag im sicheren Zuhause zu verbringen, zieht er los und sucht sein Glück. Doch welcher Art könnte das Glück eines Wolfes sein? Das Märchen findet eine simple Antwort: Es liegt in der Sättigung, und zwar nicht mit dem erstbesten Fressen – einen Sack salzigen Specks lässt er links liegen –, sondern mit einem richtigen Festmahl. Auf seinem Weg begegnet er einer Stute mit ihrem Fohlen, einer Sau mit Ferkeln sowie Ziegen und endlich auch Schafen samt ihren menschlichen und hündischen Beschützern. Der Wolf interagiert mit all diesen Protagonisten und sie mit ihm. Seine Gegenüber, menschliche wie nicht-menschliche, reagieren auf seine Anwesenheit einerseits mit Angst, andererseits aber auch mit listiger Verteidigungstaktik. Anstatt »sein Glück« zu finden, holt der Wolf sich blaue Flecken und beendet seinen Tag einsam, verletzt und hungrig (Nedo 1956: 71–73; ATU 2004: 122a; vgl. auch González Sanz 2014). Pech gehabt, könnte man kommentieren. Einer von Marlis Heyers Forschungspartnern deutet die Geschichte anders, nämlich dahingehend, ob »Des Wolfes glücklicher Tag« nicht jeder Tag sei, an dessen Ende er noch am Leben ist?

Das Märchen über den tölpelhaften Wolf, der seine Beute verliert, ist weitaus komplexer als nur eine Erzählung über die dem »großen Beutegreifer« nachgesagte Gier und Angriffslust (Pujol 1999: 342 f.). Indem der Wolf von seinen Beutetieren schmeichlerisch umgarnt und schließlich ausgetrickst wird, schlägt die von ihm ausgehende Bedrohung karnevalesk (vgl. Bachtin 1990) in ihr Gegenteil um. Zum Schluss triumphieren die Schwachen, die seine Hybris und Naivität geschickt auszuspielen wissen. Der Aggressor wird selbst zum Opfer; er muss sich geschlagen geben und kann in der Tat von Glück reden, dass er mit dem Leben davonkommt. Für alle, die auf der Seite der Schwachen stehen, bietet das Märchen Genugtuung. »Im Märchen wird [...] die Welt dichterisch bewältigt,« resümiert der Schweizer Germanist Max Lüthi. »Was in der Wirklichkeit schwer ist und vielschichtig, unübersichtlich in seinen Bezügen, wird im Märchen leicht und durchsichtig [...]« (1997: 79). Märchen liefern uns einfache Repliken auf ansonsten hoch differenzierte und verworrene Wirklichkeiten, worin sich wohl ein Teil ihrer anhaltenden Beliebtheit begründet. Mit anderen Worten, wir können heute aus jenem Tiermärchen weit mehr als lediglich die Gefahr von Wölfen für sogenannte Nutztiere herauslesen. Für unser Konferenzthema »Encounters with Wolves: Dynamics and Futures« bietet »Des Wolfes glücklicher Tag« ein Paradebeispiel, um auf die Vielschichtigkeit des Verhandelns zum Thema »Wolf/Wölfe in der modernen Gesellschaft« verweisen zu können. Denn es zeigt gleichnishaft Möglichkeiten auf, antizipierte Begegnungen zwischen verschiedenartigen Akteuren auszuhandeln, damit verbundene Hoffnungen zu formulieren, Ängste abzubauen und nicht zuletzt Handlungsstrategien zu entwickeln. Bezeichnenderweise wird der von den anderen Tieren und ihren Beschützern verprügelte Wolf nicht getötet, sondern nur vertrieben.

Mit Blick auf die gegenwärtigen Diskurse über Wölfe erscheint es uns wichtig, nicht nur nach den Begegnungen, sondern auch nach den Formen und Modi des Begegnens zu fragen (vgl. Fenske und Heyer 2019), wenn über erzählte und ontologische, über politische und biologische Wölfe – um nur einige mögliche »Wolfsarten« zu nennen – gesprochen wird. Der Wolf, den das Märchen erzählt, ist ein Wanderer, der sich zwischen wilden und domestizierten tierlichen und menschlichen Anderen bewegt. Er überquert Grenzen zwischen verschiedenen Räumen (vgl. Frank und Heinzer 2019), begegnet Wesen verschiedenster Art und setzt sich mit deren Lebensweise auseinander. Auf der Suche nach Nahrung verhält er sich, wie es auch in aktuellen Handreichungen des Landes Sachsen steht, »opportunistisch« (Wehrspohn, Schäfer und von Borell 2014: 9 f.). Dieses wölfische Verhalten hat das Märchen inspiriert, das wiederum allen, die es hören oder lesen, die Möglichkeit zum Amüsement über den potenziellen Fressfeind ihrer Nutztiere und somit zum Triumph über die eigenen, menschlichen Ängste bietet.

Darüber hinaus kann man die Tiermärchen als Allegorie lesen, bei denen es nicht um die tierlichen, sondern die menschlichen Verhaltensweisen, Charaktere und Lebensmaximen geht. Als anthropomorphe Erzählgestalt symbolisiert der Wolf Stärke und Autarkie4, aber auch Hybris und
Gier. Und schließlich markiert »der Wolf« als Politikum unterschiedliche menschliche Interessen und Vorstellungen vom Leben und produziert politische Mehrheiten und Minderheiten. In der Repräsentation der erneuten Ausbreitung der Wölfe in Westeuropa Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts vermischen sich altbekannte Erzählmotive und neue Alltagserzählungen über wirkliche und unwirkliche Begegnungen mit Wölfen. Bei keinem anderen Tier in Europa hält das kollektive Gedächtnis so vehement an den überlieferten Klischees fest wie beim Wolf (vgl. Heyer und Hose 2020).

Ein solcher Rückgriff auf kulturell verankerte Erzählmotive materialisiert sich in gegenwärtigen Diskursen und neuen Artefakten. Vor gut fünf Jahren tauchten in vielen Regionen, wo Wölfe wieder ansässig wurden, Schilder mit dieser oder ähnlichen Aufschriften auf: »Wölfe suchen auch in diesem Gebiet nach Beute. Hunde an kurzer Leine führen. Kinder bitte beaufsichtigen«. Unterschrieben waren die zunächst noch sehr provisorisch wirkenden laminierten Ausdrucke, die an Bäumen oder Zaunpfählen entlang forstwirtschaftlicher Flächen oder Wege angebracht waren, etwa mit »Die Jagdberechtigten«. Auf Nachfrage der Presse wussten allerdings nur wenige Jäger bzw. Jagdpächter von dieser mehrheitlich privaten Aktion. Der WeserKurier mutmaßte demzufolge einen »verspäteten Aprilscherz« (Niehaus 2016). Die Märkische Oderzeitung dagegen unterstrich die Notwendigkeit der Warnung und zitierte Jäger, die den Rückgang des Wildes beobachtetet hatten, das durch die Anwesenheit der Wölfe scheu geworden sei (Kühl 2016). Für viele Anwohner/innen, Spaziergänger/innen und Hundebesitzer/innen wirkte der Hinweis verunsichernd bis beängstigend, denn sie stellten die Signalwörter Wölfe, Beute, Hunde, Kinder in den durch die Erzähltradition eingeübten Zusammenhang. »Frisst der Wolf jetzt auch Menschen auf?« (Ahlfeld 2016) kommentierte die Volksstimme Sachsen-Anhalt die »Vorsichtsmaßnahme«, was die Leserschaft wiederum zum Für und Wider herausforderte. Einen Scherz erlaubten sich auch anonyme Reaktionen, die die Warnung mit dem Kommentar »Achtung, gefährlich für kleine Mädchen mit roten Mützen, die ihre Oma besuchen wollen« bzw. »Ich habe Angst um Oma, gez. Rotkäppchen« versahen. Alles in allem förderte das Auftauchen der inoffiziellen Hinweisschilder den Austausch von Narrativen zum Thema »Wolf«, die an narrative Traditionen anknüpfen (auch wenn sie sich von ihnen abgrenzen), die selbst stereotyp geprägt sind. Vergleichbar mit dem Erzählen von Sagen wird hier über etwas verhandelt, dem man selbst in der Regel nicht begegnet ist. Die offenbar anhaltend große Nachfrage nach den Schildern belegen etwa die Angebote einer Werbetechnikfirma in Niedersachsen, die mittlerweile unter der Erklärung »Wölfe sind nicht harmlos. Sie sind wild und damit unberechenbar« zehn verschiedene professionelle Wolf-Hinweisschilder anbietet. Ob diese Schilder warnen, alarmieren oder schützen, ob sie Sicherheit oder Unsicherheit erzeugen, ist sicherlich nicht zuletzt eine Frage der Perspektive. Klar ist jedoch, dass sie gerade durch ihren Rückgriff auf Erzähltraditionen und deren Verankerung im kulturellen Gedächtnis eine emotionale Resonanz bei Waldspaziergänger/innen erzielen. Diese begegnen also keinen lebendigen Wölfen, sehr wohl jedoch werden sie mit der Tatsache des Zusammenlebens im geteilten Raum konfrontiert.

»Encounters with Wolves: Dynamics and Futures« – mit der Wahl dieses Konferenztitels wollen wir das Augenmerk kulturwissenschaftlicher Forschungen auf jene Berührungspunkte und contact zones (Haraway 2008) richten, welche die »Rückkehr der Wölfe«6 mit sich bringt. Die Begegnungen gehen mit Prozessen des gemeinsamen Lernens und mit der Veränderung von Theorien, Praktiken, Narrativen und Wissensbeständen einher. Gleichzeitig stellen die Begegnungen, direkt und indirekt, vermittelt und unvermittelt, in Frage, was wir über das Zusammenleben mit Wölfen wissen oder zu wissen glauben. Wölfe sind flüchtig und manifest in einem. Die wenigsten von uns bekommen sie zu sehen. Es scheint als wollten sie sich unseren (kulturwissenschaftlichen) Blicken entziehen; die Tiere bleiben weitgehend unsichtbar. Ihre Anwesenheit materialisiert sich vielmehr in Zäunen und Herdenschutzhunden, in Gesetzestexten und biologischen Studien, in Kotproben und DNA-Tests, in Dokumentarfilmen, Zeitungsartikeln,
in den oben beschriebenen Hinweistafeln und vielem mehr.

Wölfe erregen Emotionen, setzen materielle und diskursive Effekte. Sie wecken Hoffnungen und Zweifel, bringen Konflikte und Fragen mit sich. Die Aushandlungen möglicher Zukünfte (vgl. Zeitlyn 2015; Arnold und Heyer in diesem Band) mit Wölfen müssen vielstimmig geführt werden. Sie müssen auch die Stimmen einbeziehen, die allzu oft überhört werden, die leise sind und nicht zu den schablonenhaften, stereotypen Bildern passen, die von Medien und den Lobby-Verbänden der verschiedenen Interessensgruppen so oft gezeichnet werden.
"Though this be madness, yet there is method in 't ..."
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